Plötzlich ist der "Helmut" kein Fremder mehr

Plötzlich ist "der Helmut" kein Fremder mehr

Schulleiterin trifft mit Anti-Gewalt-Kurs ins Schwarze: Gewaltige Resonanz bei Eltern - Experten vier Tage an Aylas ehemaliger Grundschule

Um Mut zum Nein-Sagen und Gegenwehr ist es diese Woche in der Dittesschule gegangen. Von 330 Kindern haben 188 mitgemacht. Schulleiterin Sigrid Michel freut sich, dass so viele Eltern ihre Kinder angemeldet hatten. Es ist Aylas ehemalige Schule. Das sechsjährige Mädchen war im Mai 2005 auf ihrem 80 Meter langen Schulweg von einem 37-jährigen Sexualstraftäter ins Auto gezerrt, verschleppt und umgebracht worden.

Von Uta Pasler

Zwickau. Die alte Frau sah leidend aus. Völlig verstört blickte sie um sich. Ihr Kätzchen sei verschwunden, jammerte sie den im Schulhof spielenden Schülern der Dittes-Grundschule vor. "Könnt Ihr mir nicht helfen bei der Suche?" Gleich da drüben, da draußen, sei es ausgebüxt. Heike Weschenberger, Mutter des sechsjährigen Dominik: "Ich war erschrocken, als ich sah, dass mein Sohn mit ihr mitgeht." Die Anweisung zuvor lautete klipp und klar: Das Schulgelände nie verlassen!

Doch die Straftäter, versicherte Ralf Schmitz, ehemaliger Polizeibeamter und Kampfsportexperte, werden immer gewiefter. Er ist Motivationstrainer im Sicher-Stark-Team, das den Dittesgrundschülern vier Tage in dieser Woche Tipps gab, wie sie sich gegen Gewalttätige zur Wehr setzen und brenzlig werdenden Situationen ausweichen können. Hauptübungsplatz ist die Turnhalle: Anna tritt mit ihrer Freundin in den Kreis, den die Kinder bilden. "Lass mich bitte los!" sagt sie zur Freundin, die sie an den Armen festhält. Die denkt nicht daran. "Lass mich bitte los!" sagt Anna deutlich schärfer . Nichts passiert. "Lass mich los!" brüllt das Mädchen und stapft mit dem Fuß auf. "Prima!" lobt Julia Schlegel, Diplom-Pädagogin vom Sicher-Stark-Team. "Und noch ein Tipp: Schau ihr böse in die Augen, das wirkt noch mehr." Die siebenjährige Marion Al-Assad, die für ihre Auftritte gleich mehrfach gelobt wird, staunend: "Das war neu für mich, erst lieb darum zu bitten, losgelassen zu werden!" Klares Mienenspiel, lautes Stapfen, Anschreien - das beeindruckt Angreifer. "Ich war richtig erschrocken", sagt Jason. "Richtig, genau das wollten wir ja auch erreichen", freut sich Trainer Schmitz. Der Angreifer kriegt einen Schreck, der drei bis 20 Sekunden andauern kann. "Eure Chance, aus der brenzligen Situation rauszukommen. In der Zeit könnt ihr Hilfe holen", leitet Schmitz zur nächsten Übung über. Helfen könnte etwa Marlis Tynior, seit kurzem Zwickaus erste Schulsozialarbeiterin an einer Grundschule. Sie steht 15 Meter entfernt von den am Rande aufgefädelten Steppkes. Die Mädchen und Jungen sollen so schnell und so laut wie möglich zu ihr rennen. Die Halle bebt, Tarzan-Schreie und Sirenen wechseln sich ab. Ein Riesen-Spaß für die Kinder. "Wenn jemand euch ins Auto ziehen will, kreischt ihr dem so richtig ins Ohr!" Wenn man aber gerade heiser ist, wenn ein Sechstklässler einen ins Klo sperren oder ein Neuntklässler einen in die Mülltonne stecken will? Zubeißen, in die Schulter oder in den Arm!, raten die Experten. Die Kinder üben vorsichtig.

Die Trainer kreiden niemandem Fehler an, es gibt nur Lob und Tipps, wie man etwas noch besser machen kann. Jeder wird persönlich angesprochen, dafür tragen alle extra Namensschilder. Denn es geht vor allem darum, Kinder stark - selbstbewusst - zu machen. Und selbstbewusst zu fragen: Warum willst du das jetzt von mir wissen? "Der Mann, der mit dem Auto vor der Schule anhält, ist nämlich gar kein Fremder mehr: Das ist der Helmut, der doch gleich nebenan wohnt." Mehrere Tage zuvor hat er sich bereits das Vertrauen der Schüler erschlichen, aus ihnen Dinge herausgekitzelt, die sie mögen, Gewohnheiten... "Die Kinder haben alles verraten", versichert Trainer Schmitz den eingeladenen Eltern. Die Regel "Steig nie zu einem Fremden ein!" war außer Kraft gesetzt. Die BKK unterstützt das Projekt, das nur ein Anfang sein könne, sagt Zwickaus Filialleiter Jan Weißbach. Er würde sich freuen, wenn Lehrer im Unterricht daran anknüpften. Damit es keine Eintagsfliege bleibt, gab er den Elternanteil in Höhe von 940 Euro wieder zurück an die Schule. Den Spendenscheck nahm Thomas Herberger, Schatzmeister im Förderverein, freudig entgegen. Dominiks Mutter Heike Weschenberger, die auch ihre große Tochter Sabrina - eine ehemalige Freundin der kleinen Ayla - für den Kurs angemeldet hatte, gibt zu: "Ich habe selbst viel gelernt." Vor allem der Test auf der Straße, bei dem die Kinder nicht "Hilfe!" sondern "Feuer!" schreien sollten, habe gezeigt, was wirklich wirkt. "Da flogen einige Fenster auf", sagt die Mutter.

Informationen

Die Deutsche BKK unterstützt das Präventionsangebot des seit zehn Jahren existierenden Sicher-Stark-Teams seit nunmehr zwei Jahren. Den Elternanteil (5 Euro) an diesem Kurs gibt die BKK an die Schule zurück. Mehr als 300.000 Kinder und Eltern hat das Team nach eigenen Angaben mittlerweile ausgebildet. Ziel ist, Kinder sicher und stark zu machen, damit sie Gewaltverbrechen und sexuellem Missbrauch nicht mehr hilflos ausgeliefert sind, sondern sicher aufwachsen.