Schreien, beißen, schlagen

Lernen im Rollenspiel: Wie Kinder sich gegen Gewalt wehren können

 

Mit Familienpasswort und Schlagkraft wappnen sich Overather Grundschüler gegen Missbrauch und Gewalt und lernen, Gefahren zu erkennen und abzuwehren.

VON STEFANIE JOOSS

Overath - "Steige nie zu einem Fremden ins Auto!" - Diese Warnung bekommen Kinder zu hören, sobald sie die ersten Schritte laufen können. Der erhobene Zeigefinger der Eltern ist zwar gut gemeint, nützt im Ernstfall aber wenig.

"Das ist wie mit der heißen Herdplatte", erklärt Ralf Schmitz. Kinder nehmen die Gefahr in der Regel erst dann ernst, wenn sie sich tatsächlich schon die Finger verbrannt haben. Schmitz ist Trainer im Sicher-Stark-Team. Zusammen mit seiner Kollegin Julia Schlegel zeigte der ehemalige Polizeibeamte an der Grundschule Overath Kindern im Alter von sechs bis acht Jahren, wie sie Gefahren, die von pädophilen Tätern ausgehen, erkennen und sich dagegen wehren können. Statt mit erhobenem Zeigefinger zu warnen, gaben die Trainer den Kindern konkrete Tipps. Im Rollenspiel mimte Schmitz den Entführer und versuchte, einige der Schüler in sein Auto zu locken. Das sei einfach gewesen, erzählt er später den Eltern. Nach dem Weg zu fragen genügt meist, um die Kinder in ein Gespräch zu verwickeln und so ihr Vertrauen zu gewinnen. "Pädophile Täter gehen genauso simpel vor", sagt Schmitz. Warum sie damit Erfolg haben? Kindern falle es schwer, klar zu unterscheiden, ob jemand ein Fremder, Bekannter oder Vertrauter ist, erklärt Diplom-Pädagogin Schlegel. Nach einem kurzen Gespräch ist der Täter für viele Kinder kein Fremder mehr. Deshalb sollten Eltern mit ihren Kindern ein geheimes Familienpasswort ausmachen. Außer ihnen bekommen nur Personen das Wort, denen die Eltern hundertprozentig vertrauen. Zum Einsatz kommt das Passwort zum Beispiel, wenn Vater oder Mutter ihr Kind einmal nicht selbst von der Schule abholen können, sondern einen Bekannten schicken. Und noch etwas haben die Schüler gelernt: "Wir sollen immer hinter der Tür stehen bleiben, wenn uns ein Autofahrer anspricht", erzählt die kleine Lena nach dem Kurs. So können potenzielle Täter das Kind nicht so einfach ins Auto zerren.

Kinder vor Missbrauch zu schützen, könnte einfach sein - wenn die größte Gefahr wirklich vom berüchtigten fremden Mann ausginge, der seinem Opfer im Auto auflauert. Das ist aber nicht die Regel. 3 106 Fälle von Kindesmissbrauch wurden der Polizei in Nordrhein-Westfalen im vergangenen Jahr bekannt. In knapp 22 Prozent dieser Fälle waren Opfer und Täter miteinander verwandt, in 41 Prozent der Fälle bestand eine Bekanntschaft. Die Dunkelziffer liege wahrscheinlich weit höher, berichtet die Polizei in ihrer Kriminalstatistik. Einen Kinderschänder anzuzeigen, fällt eben deutlich schwerer, wenn es der eigene Partner oder der Arbeitskollege ist. Kommt der Täter aus dem eigenen Bekanntenkreis, nützt dem Kind auch ein Familienpasswort nichts. Der beste Schutz ist deshalb, den Kindern Stärken zu vermitteln. Da zu gehört zum einen, den Kindern zu zeigen, wie sie sich in Gefahrensituationen wehren können. "Kinder können sich auch gegen Erwachsene durchsetzen", ist Schmitz überzeugt: Durch schreien, beißen, treten oder schlagen. Welche Kraft in ihnen steckt, erfahren die Kinder am Ende des vierstündigen Schnupperkurses: Mit Händen und Füßen dürfen sie auf gepolsterte Pratzen einschlagen - und haben riesigen Spaß dabei.

Zum anderen wollen Schmitz und Schlegel den Kindern auch Selbstsicherheit vermitteln. "Die Kinder sollen lernen, auf ihr Bauchgefühl zu hören und "Nein" zu sagen, wenn ihnen das Küsschen von Oma unangenehm ist", erklärt Schlegel den Eltern. Auch die sind gefordert, wenn es darum geht, ihren Sprösslingen Selbstsicherheit und Stärke zu vermitteln. Deshalb geben die Sicher-Stark-Trainer auch den Eltern "Hausaufgaben", mit auf den Weg: Dem Kind aufmerksam zuhören, wenn es et was erzählt, Tätigkeiten nicht ständig mit einem "Das kannst Du nicht!" unterbrechen oder ein "Nein" des Kindes auch einmal ohne Kommentar hinnehmen - nur einige der Lektionen, die Eltern lernen müssen.

30 Kinderdaumen, die nach oben zeigten, erntete das Sicher-Stark-Team für seine Arbeit. Für Lehrerin Katrin Hartmann, die die Zusammenarbeit mit dem Team initiierte, steht fest, dass es in Zukunft noch weitere Kurse in Overath geben soll. Dafür sucht sie noch Sponsoren. Ohne deren Hilfe hätte der Kurs nämlich weitaus mehr als 20 Euro pro Kind gekostet.

Erschienen im Kölner Stadt-Anzeiger vom 15. März 2006, Ausgabe Rhein-Berg, und unter www.rhein-berg-online.de