Üben für das Nein-Gefühl

Das "Sicher-Stark-Team" aus Euskirchen bricht mit dem Irrglauben, dass Kinder lieb sein müssen. Um sexuellen Missbrauch zu verhindern, trainiert es seit mehr als zehn Jahren mit Grundschülern, auch mal unfreundlich zu sein und sich zu wehren

AUS DÜSSELDORF
ISABEL FANNRICH

Eine über ihren Stock gebeugte alte Frau, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, nähert sich drei Kindern. "Könnt ihr mir mal helfen?" bittet sie eindringlich. "Meine Katze versteckt sich dort hinten im Gebüsch." Der Junge und die beiden Mädchen treten auf der Stelle und bringen kein Wort raus. "Seit ihr immer so unfreundlich?" klagt die Alte. Die drei wissen nicht weiter. Mit Übungen und Rollenspielen werden sie zusammen mit 19 Altersgenossen einen Vormittag lang vom "Sicher-Stark-Team" geschult, Gefahren frühzeitig zu erkennen und sich zu wehren. Dabei gilt das Prinzip: "Du musst nicht lieb sein!"

Seit mehr als zehn Jahren reist die rund zehnköpfige Sicher-Stark-Truppe aus Euskirchen quer durch NRW und auch durch Deutschland und lehrt Grundschulkinder, auf ihre Intuition zu hören. Das Team aus Psychologen, Kindertherapeuten, Erziehungswissenschaftlern und Polizeibeamten preist sich gekonnt als "marktführenden Anbieter" für "eines der wirkungsvollsten Kinderpräventionskonzepte, das nachweislich schützt und hilft". In seinen Kursen gebe es immer missbrauchte Kinder, erzählt der "Erfolgs- und Motivationstrainer" Ralf Schmitz, ein ehemaliger Polizeibeamter, der "Sicher Stark" vor 15 Jahren mitgegründet hat und seine Kampfsporterfahrung beisteuert.

An der "Städtischen Gemeinschaftsgrundschule Südallee" in Düsseldorf etwa sind es an diesem Tag sechs- bis achtjährige Jungen und Mädchen, darunter auch ein paar ältere, die einige Stunden ihrer Ferien opfern. Einige Kinder sind sogar von außerhalb angereist, darunter zwei aus Krefeld.

Zwei weitere Kurse sind für die älteren Grundschulkinder gedacht. "Wenn wir nur einen Fall von Kindesmissbrauch verhindern können, hat sich das gelohnt", sagt Schulleiter Richard Schmitz. Denn auch an seiner Schule, die "in der Nähe eines sozialen Brennpunktes" liegt, gebe es Fälle von Missbrauch.

Sexuelle Gewalt gegenüber Kindern habe zwar nicht generell, aber deutlich in den Medien zugenommen, sagt Simone Schulte vom Verein "Zartbitter" in Köln. "Chat-Räume bieten eine Plattform, um Kinder und Jugendliche sexuell anzumachen." Außerdem seien heute viel mehr Eltern für das Thema sensibilisiert: "Sie informieren sich bei uns, was man in welchem Alter wissen muss." Rollenspiele hält Schulte zur Prävention für nicht so geeignet. "Im Rollenspiel klappt's, in der Realität nicht", kritisiert sie das Konzept von "Sicher Stark", "das vergrößert die Schamgefühle bei Kindern."

Zunächst einmal geht es bei den Experten aus Euskirchen um einfache aber wirksame Tipps. Zwar haben sechs der Kinder ein Handy und fünf eine Telefonkarte. Doch acht kennen die Telefonnummer von zu Hause nicht. "Steckt euch einen Zettel mit der Nummer in die Tasche und schaut jeden Tag einmal drauf", raten Teamer Schmitz und Diplom-Pädagogin Julia Schlegel. "Und lasst euch von den Eltern eine Karte geben und übt mit ihnen, von einer Zelle aus zu Hause anzurufen." Falls mal der Fußball in eine Fensterscheibe fliege, gebe es außerdem noch das "Kinderkummer-Telefon": 0800-1110333.

Hauptziel von "Sicher stark" ist es, in den "Schnupper"- oder fünftägigen Hauptkursen Kindern beizubringen, auf ihr inneres Gefühl zu achten - und Nein zu sagen. Zum Beispiel zur Oma, die ihrem Enkel mit der eigenen Spucke den Pudding aus dem Mundwinkel reiben will. Zur fremden Frau, die sich auf der Parkbank neben einen setzt. Oder auch zum besten Freund, der einem so unangenehm den Rücken massiert und das als Geheimnis gewahrt wissen will. "Habt ihr dabei ein Ja-Gefühl oder ein Nein-Gefühl?", lässt die Julia Schlegel ihre große Handpuppe Lara die Kinder fragen. "Ich mag es nicht, wenn mein Ersatzpapa mich immer so doll kitzelt", beschwert sich daraufhin ein Mädchen. Puppe Lara weiß einen Rat: In einer ruhigen Minute Mama um Hilfe bitten. "Dein Körper gehört dir", bestärkt Julia Schlegel die versammelten Kinder. "Wenn euch jemand anfassen, küssen, streicheln will, dürft ihr das auch jemandem erzählen."

Mit Hilfe von Videofilmen, Übungen und Rollenspielen stoßen die Teamer ihre Schützlinge auf "merkwürdiges" Verhalten von Verwandten oder Bekannten - aber auch von Fremden. Wenn etwa der neue Nachbar nur eines der spielenden Kinder auf ein Eis zu sich nach Hause einlädt. Oder der Bekannte, der das vor der Schwimmhalle wartende Kind im Auto mitnehmen will. Nicht einsteigen, schärfen die Experten ein, sondern nach dem "Familienpasswort" fragen. Egal ob "Klosettentieftaucher" oder "ausgetrockneter Ententümpel", bringt Puppe Lara die Kinder zum Lachen, "macht noch heute mit den Eltern ein Familienpasswort ab. Man darf bei niemandem ins Auto steigen, der das nicht kennt."

Ein Auto hält vor der Schule, der Fahrer mit Schirmmütze, Sonnenbrille und Karte auf dem Schoß stößt die Tür auf und winkt zwei Kinder heran. "Könnt ihr mir sagen, wo ich lang muss?" Kaum hat sich der Junge dem Wagen genähert, wird er schon hinein gezerrt. "Haltet einen Abstand von mehreren Metern", warnt Ex-Polizist Schmitz nach dem Rollenspiel. "Und stellt Euch hinter die Wagentür." Wenn der Autofahrer dennoch handgreiflich werden sollte, ist alles erlaubt: Beißen, sich Losreißen, Schreien. Das dürfen die Kinder gleich darauf in der Turnhalle üben: Mit gellenden Schreien flitzen sie durch den Raum, üben, ihrem Gegenüber fest in die Augen zu schauen, sich los zu reißen oder gegen das Schienbein zu treten. "Das Schlagen", sagt die kleine Maja in der Schlussrunde, "hat mir am besten gefallen".

Jonas fand das Schreien besonders gut. "Unser Kind wächst viel zu wohl behütet auf", erzählt die Krefelder Mutter, die ihre Tochter mit dem Opa abholen kommt. "Was dieser Kurs bietet, können wir gar nicht leisten."

Quelle: taz NRW Nr. 7743 vom 16.8.2005, Seite 3, 202 TAZ-Bericht ISABEL FANNRICH